Die Heilige Schrift und die Verfassung

Die Heilige Schrift und die Verfassung - Mensch, Religion und Staat in Islam und Christentum. "Außergewöhnlich" nannte der Nahostwissenschaftler Prof. Dr. Udo Steinbach von der Humboldt-Viadrina School of Governance die Veranstaltung in

seiner Eröffnungsrede: Eine Delegation hochrangiger schiitischer Gelehrter aus dem irakischen Najaf hatte die Reise nach Berlin angetreten, um mit deutschen Wissenschaftlern, Theologen, Verfassungsrechtlern und Vertretern der orientalischen Kirchen über das Verhältnis von Religion, Staat und Bürgerrechten zu diskutieren – offen, spontan und ohne Vorabsprachen.

Herr Steinbach machte in seiner Eröffnungsrede deutlich, dass man Wege finden müsse, die "Religion aus dem politischen Raum heraus und zurück in die Herzen der Menschen führen", da Konflikte mit religiöser Konnotation erfahrungsgemäß noch schwerer zu lösen seien als Konflikte auf rein machtpolitischer Ebene. Der Botschafter des Irak, Hussein Fadlallah Alkhateeb pflichtete Steinbach bei: Viele ehemals politische Konflikte im Nahen Osten seien zu religiösen Konflikten »umfunktioniert« worden. Vor allem die unterschiedlichen islamischen Strömungen müssten erst wieder ein friedliches, respektvolles Verhältnis zueinander aufbauen.

Danach begrüßte Herr Al-Bahadli alle Gäste. Er bedankte sich besonders beim Deutschen Auswärtigen Amt und der Deutschen Botschaft in Bagdad, für die Ausstellung der Visa für unsere heutigen Gäste. Auch dankte er unseren Partnern, Herrn Professor Steinbach von der Humboldt-Viadrina School of Governance und Herrn Daniel Gerlach von der Candid Foundation und ebenso den irakischen Botschafter in Berlin, Herrn Doktor Al-Khatib. Er stellte klar, dass er keinen Vortrag halten wolle in Anbetracht der Anwesenden. Es sei unhöflich, einen Vortrag zu halten, bei all den Gelehrten, Professoren und Wissenden die heute hier sind. Besonders begrüßte er darauf die Gäste aus dem Irak und dankte ihnen für die Unterstützung dieser Veranstaltung. Das Ziel dieser Veranstaltung sei es, dass die Spaltung zwischen Europa und der arabischen Welt zu beseitigen und die Gedanken und Beziehungen dieser beiden Regionen zueinander zu bringen. Weiterhin wolle er die religiöse Hochschule („Hawza“) aus Najaf auch in Europa und insbesondere in Deutschland vorstellen. Diese Hochschule wurde mehr als 30 Jahre lang von Saddam sabotiert und es wurden viele Gelehrte inhaftiert, verletzt und umgebracht. Nach 2003 kam die Demokratie und eine neue Regierung in den Irak und die religiöse Hochschule hat ihre Freiheit zurückerlangt. Sie wollen seitdem zeigen, dass sie gemäßigt seien und neue Kontakte und Beziehungen in der Welt suchen. Weiterhin hoffe er, dass diese Veranstaltung der erste Baustein für dieses Fundament  sei und er freue sich die Gelehrten aus Najaf hier zu Gast in Berlin zu sehen.

Nicht nur die geladenen Sprecher und Delegierten sollten an diesem Abend mitreden. Der Moderator und zenith-Chefredakteur Daniel Gerlach forderte eine "Diskussion, angelehnt an die Senatsdebatten im antiken Rom, an der sich alle Anwesenden beteiligen dürfen". Diese eröffnete er mit einer Frage zum Verhältnis von Religionsgruppen und politischer Macht: "Regieren die Schiiten eigentlich den Irak?" Der schiitische Parlamentsabgeordnete Abdul Hussein Abtan aus der Region Najaf entgegnete, dass Schiiten im Irak die Glaubensvielfalt schätzten und dass die neue irakische Verfassung die Pluralität der Konfessionen schütze. "Wir glauben, dass wir in einem Rosengarten leben: je mehr unterschiedliche Rosen es gibt, desto schöner ist der Garten", so Abtan. Dem begegnete der deutschsyrische Verfassungsrechtler Naseef Naeem mit Skepsis: "Vor allem die Freiheit nicht-religiöser Menschen müsse im Irak – wie auch in den meisten anderen arabischen Ländern – auf die Tagesordnung kommen, denn sie sei stark eingeschränkt. Dies liege unter anderem am religiösen Familien- und Erbrecht. »Für Atheisten gibt es de facto keine Rechtsordnung", sagte er. Er plädiere für die Entwicklung eines Konzeptes vom Staatsbürger ohne Ansicht der Religion – etwa nach dem Vorbild Europas: »Das ist die Verantwortung der Staaten!«, forderte Naeem.

Zur Rolle der Religion in der Politik befragt, erklärte Sheikh Ali Bashir al-Najafi, Sohn des Großayatollahs Bashir al-Najafi und selbst einer der einflussreichsten Geistlichen im Irak, dass der Koran »die Bedienungsanleitung von Gott für die Geschehnisse auf Erden« sei. Die Verantwortung der Hawza verankerte er in beratender Position: »Wir wollen Ratschläge und Empfehlungen für die Politik aussprechen. Wir wollen unseren Beitrag zu einem Staat leisten, wo die Rechte aller von allen Seiten beachtet werden.«

Sheikh Nazieh Muhieddin, Philosoph, Theologe und Berater der Hawza, erklärte die Strukturen der schiitischen Lehreinrichtungen und deren Wege zur Entscheidungsfindung. »Wir sind eine wissenschaftliche Institution und bedienen uns bestimmter Untersuchungsmethoden, die Diskussionen erlauben. Es gibt keine absolute Wahrheit.« Sheikh Nazieh Muhieddin sprach sich deutlich gegen militanten Fundamentalismus aus und schloss mit dem Satz: »Jedes Tötungsdelikt, das sich auf die Religion beruft, ist falsch und beruht auf einer Lüge.«

Im weiteren Verlauf griff Moderator Daniel Gerlach das Problem religiöser Minderheiten auf und befragte Pater Emanuel Youkhana, Vertreter der Assyrischen Kirche des Ostens, ob sich seine Glaubensgemeinschaft in einem islamischen System gut aufgehoben fühle, das Minderheiten als Schutzbefohlene (Ahl al-Dhimma) betrachtet. In seiner Antwort kritisierte Pater Emanuel Youkhana genau diese Vorstellung: Solange der Schutz von Minderheiten als juristische Grundlage gelte, sei ebendies ein Indikator dafür, dass die Minderheiten gefährdet

sind. »Wir machen einen Rückschritt in unserer Heimat, wenn wir die Söhne der gleichen Nation anhand ihres Glauben unterscheiden«, kritisierte Youkhana die Situation in seiner Heimat Irak. Er forderte einen Staat, in dem alle Bürger gleichberechtigt seien – dann brauche man auch keinen Minderheitenschutz. Weiter bemängelte Pater Youkhana, dass irakische Kinder in der Schule nicht über andere Religionen aufgeklärt würden, die meisten somit nicht einmal wüssten, dass in ihrem Heimatland Christen, Aramäer und Sabäer existierten. Deswegen appellierte er eindringlich an Abtan als Vertreter des irakischen Parlaments, die Gesetzgebung dahingehend anzupassen, dass Achtung und gegenseitiges Kennenlernen zwischen Glaubensgemeinschaften gefördert werde – ein Punkt, in dem ihm der deutsche Theologe Rolf Schieder entschlossen zustimmte: »Es ist eine wesentliche Aufgabe aller Staaten und Gesellschaften, dass sie sich um religiöse Bildung bemühen«, so Schieder. »Ich selber habe die Formel geprägt: Wir müssen für eine Zivilisierung der Religion durch Bildung sorgen.«

Die Islamwissenschaftlerin Bettina Gräf brachte einen weiteren Unterscheidungsfaktor zwischen der Rolle der Religion in der islamischen Welt und Europa ein: die Bedeutung der Religion im öffentlichen Raum. Ihres Erachtens spielt die Religion in Europa aus historischen Gründen eher im privaten Raum eine Rolle, in der muslimischen Welt hingegen würden auch religiöse Debatten öffentlich geführt, da »Muslime nicht gegen Institutionen wie die Kirche anzukämpfen haben.« In diesem Punkt widersprach der protestantische Theologe Schieder der Islamwissenschaftlerin Gräf: »Auch in Deutschland ist Religion keine Privatsache. Es gibt zwar eine Trennung von Staat und Kirche, aber das heißt nicht, dass Religion und Politik nicht immer miteinander kommunizieren.« Die ambivalente Rolle der Religion in den islamischen Staaten des Nahen Ostens, die durchaus säkulare Gesetze kennen, erklärte Gräf dadurch, dass »es im Irak, Ägypten oder Jemen keine ungebrochene Rechtstradition gibt, die sich aus der islamischen Tradition heraus erklären lässt«. Im Zuge der Kolonialisierung hätten die Rechtskodizes unterschiedlicher europäischer Länder ihre Spuren in Nahost hinterlassen.

Eine kritische Anmerkung des Abends kam aus dem Publikum. Der Journalist Iskandar El-Dick, der unter anderem für die Zeitung Al- Hayat tätig ist, erklärte, dass der interreligiöse Dialog zwischen Christen und Muslimen nicht so vordringlich sei: Ein friedliches Zusammenleben im Nahen Osten scheitere schon daran, dass Muslime andere Muslime nicht akzeptierten. Solange das nicht geklärt sei, so der Gast, sei es fruchtlos, schon Gespräche mit Christen oder dem »Westen« zu führen. Dies veranlasste die Sheikhs Salam al-Maliki – religiöser Berater des irakischen Ministerpräsidenten – und Hassanein al-Khafaji – Theologe und stellvertretender Vorsitzender der Organisation der Al-Amin in Deutschland – abschließend die Wichtigkeit des interreligiösen Dialogs hervorzuheben und Ali, den Schwiegersohn des Propheten Muhammad, zu zitieren: »Die Menschen sind zweierlei, entweder Brüder im Glauben oder Brüder in der Schöpfung.«

 


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